Agentic Commerce im deutschen Pharma-E-Commerce: Wenn KI das Einkaufen verändert
Das digitale Einkaufen steht vor einem neuen Entwicklungsschritt – nicht durch eine weitere Plattform, sondern durch eine neue Logik. Agentic Commerce, also der Einsatz autonomer KI-Agenten, die im Auftrag des Kunden handeln, könnte mittelfristig die Art verändern, wie Menschen Medikamente und Gesundheitsprodukte online kaufen. KI-Agenten erkennen Bedürfnisse, vergleichen Angebote, verhandeln Preise und führen Käufe aus – immer im Sinne der Nutzerintention. Laut Schätzungen von McKinsey könnte bis 2030 ein bedeutender Anteil des weltweiten Onlinehandels durch solche Prozesse unterstützt werden.
Gerade für den deutschen Pharma-E-Commerce ist das Thema spannend: Hier treffen strenge Regulierung, hohe Datenschutzstandards und sensible Gesundheitsdaten auf Unternehmen mit großer digitaler Kompetenz. Doch die Entwicklung dürfte deutlich schrittweiser und pragmatischer verlaufen, als viele Tech-Visionen nahelegen.
Vom Klick zum Konzept: Wie Agenten den Kaufprozess verändern
Im klassischen Onlineapotheken-Modell – etwa bei Shop Apotheke, DocMorris, Amazon oder bald auch dm – sucht der Kunde nach einem Präparat, vergleicht Preise, prüft Lieferzeiten und bestellt manuell. In einem agentischen Modell übernimmt das ein digitaler Assistent: Er erkennt anhand von Medikationsplänen oder Wearable-Daten, dass ein Folgerezept ansteht, beantragt das E-Rezept (mit Zustimmung des Patienten) über eine Praxissoftware und bestellt das passende Produkt – inklusive Alternativen bei Lieferengpässen.
Der Warenkorb verschwindet dabei nicht, aber er wird intelligenter. Agenten unterstützen den Prozess, indem sie Vorschläge machen oder Zwischenschritte automatisieren. In den nächsten Jahren dürfte das Ziel nicht die komplette Automatisierung, sondern eine kontextbasierte Entlastung des Menschen sein: weniger Reibung, mehr Orientierung.
Neue Dynamik: OpenAI Instant Checkout und das Long-Tail-Prinzip
Ein aktuelles Beispiel für diese Entwicklung liefert OpenAI mit dem neuen Feature Instant Checkout: ChatGPT-Nutzer in den USA können direkt in der App Produkte von Etsy oder Shopify kaufen – ohne die Plattform zu verlassen. Gleichzeitig wurde das Agentic Commerce Protocol (ACP) vorgestellt, ein offener technischer Standard, mit dem Händler ihre Produkte direkt in ChatGPT „einkaufbar“ machen können.
Dieses Modell ist bemerkenswert, weil es das Prinzip des Long Tail Commerce stärkt: KI kann Produkte aus der Nische sichtbar machen, die man in klassischen Suchsystemen kaum findet. Statt dass Händler durch Werbung und Social Ads ihre Kunden suchen, finden künftig Kunden durch KI-Agenten jene Anbieter, die ihr individuelles Problem am besten lösen.
Übertragen auf den deutschen Pharma-E-Commerce bedeutet das: Kleinere Marken – etwa Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln, Naturheilmitteln oder Spezialpräparaten – könnten stärker profitieren als heute. Agenten sind in der Lage, gezielt nach „passenden“ Lösungen zu suchen, nicht nur nach großen Marken. Damit entsteht eine neue Sichtbarkeitsschicht, in der Qualität, Evidenz und Passgenauigkeit wichtiger sind als Marketingbudgets.
Gleichzeitig zeigt das Beispiel von OpenAI auch die Grenzen: Instant Checkout funktioniert bislang nur bei einfachen, unregulierten Produkten. Auf den Pharmahandel lassen sich solche Transaktionen nur übertragen, wenn Themen wie Datenschutz, Medikationssicherheit und ärztliche Kontrolle technisch und regulatorisch sauber abgebildet werden. Für Deutschland ist daher eher mit API-basierten Integrationen zwischen Apotheken, Krankenkassen und Agenten zu rechnen, nicht mit einem direkten Chatbot-Checkout.
Chancen für die großen Player
Für Anbieter wie Shop Apotheke und DocMorris, die bereits in Dateninfrastruktur und Patientenplattformen investieren, kann Agentic Commerce ein klarer Differenzierungsfaktor werden. Wer früh eine „Agent-kompatible“ Infrastruktur aufbaut – also strukturierte Produktdaten, Schnittstellen und sichere Authentifizierungsmechanismen –, wird leichter von KI-Agenten angesteuert.
Amazon verfügt technisch über die besten Voraussetzungen: Millionen gelistete OTC-Produkte, Logistik in Echtzeit und eigene Sprachassistenten. Sollte Alexa künftig auch medizinisch validierte Aufgaben übernehmen dürfen, könnte Amazon Health als Plattform für agentische Bestellungen relevant werden.
dm wiederum steht noch am Anfang: Die Onlineapotheke befindet sich im Aufbau, und es wird Zeit brauchen, bis sie im verschreibungspflichtigen Bereich Marktmacht entwickelt. Der langfristige Vorteil liegt in der hohen Markenbekanntheit und dem Vertrauen, das sich in agentischen Journeys auszahlen könnte.
Chancen für neue Player
Neben den etablierten Plattformen ergeben sich Chancen für spezialisierte neue Anbieter. Start-ups könnten als Agent-Orchestratoren auftreten, die KI mit medizinischem Wissen, Preisvergleich und personalisierter Beratung kombinieren. Auch Meta-Agenten, die als neutrale Vermittler zwischen Patient, Arzt und Apotheke agieren, sind denkbar – etwa ein „HealthGPT“, das Rezepte, Versicherungsinformationen und Lieferoptionen integriert.
Zudem eröffnet das Modell Raum für datenbasierte B2B-Anbieter, die Produkt- und Lieferdaten standardisieren oder Vertrauensdienste für Agenten anbieten. Im Agentic Commerce wird nicht mehr Sichtbarkeit auf Google entscheidend sein, sondern Maschinenlesbarkeit, Vertrauenszertifikate und Datenqualität. Das könnte auch kleineren, aber hochspezialisierten Akteuren Chancen eröffnen – ähnlich wie Etsy-Seller, die durch ChatGPTs Long-Tail-Funktion plötzlich global sichtbar werden.
Regulatorische Realität: Agenten im deutschen E-Rezept-System
Deutschland hat mit der Einführung des E-Rezepts seit 2024 eine digitale Grundlage geschaffen – theoretisch. Praktisch bleiben Datenschutz und SGB-V-Regelungen die größten Hürden.
Damit Agentic Commerce im verschreibungspflichtigen Bereich funktioniert, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein:
- Rechtssichere Delegation: Patienten müssen KI-Agenten autorisieren können, in ihrem Namen zu handeln – revisionssicher und transparent.
- Interoperabilität: Apotheken, Ärzte, Krankenkassen und Plattformen müssen über offene Standards (z. B. FHIR-APIs) kommunizieren.
- Vertrauensinfrastruktur: Zertifikate, Audit-Trails und ethische Leitplanken sind essenziell.
In der Praxis wird sich Agentic Commerce im Pharma-Kontext daher zunächst auf OTC-Produkte, Gesundheitsprävention und Routinebestellungen konzentrieren. Rx-Integration wird Jahre dauern – regulatorisch, technisch und kulturell.
Wie stationäre Apotheken reagieren können
Für Vor-Ort-Apotheken bedeutet Agentic Commerce zunächst eine Herausforderung, langfristig aber auch eine Chance zur Repositionierung.
Wer seine Systeme an Plattformen anbindet, kann von Agenten bevorzugt werden – etwa weil ein Medikament sofort verfügbar ist oder zusätzliche Services angeboten werden. Apotheken können sich zu „hybriden Gesundheits-Hubs“ entwickeln: digital vernetzt, aber mit menschlicher Beratung, Sofortverfügbarkeit und Service-Kompetenz.
Der Schlüssel liegt in Kooperation statt Konfrontation: Apotheken, die in digitale Versorgungsnetzwerke integriert sind, bleiben sichtbar. Wer dagegen abwartet, riskiert, von Agenten schlicht ignoriert zu werden.
Disruption und neue Geschäftsmodelle
Für Markenhersteller und Apothekenketten bedeutet Agentic Commerce eine Verschiebung vom Markenvertrauen zum Algorithmusvertrauen. Wenn ein KI-Agent entscheidet, welches Präparat bestellt wird, zählen Evidenz, Preis und Lieferfähigkeit mehr als klassische Werbung.
Neue Umsatzmodelle entstehen – etwa:
- API-Provisionen für agentische Bestellungen, ähnlich Affiliate-Programmen.
- „Agent-Optimierung“ als neues SEO für maschinenlesbare Produktdaten.
- Conversational Marketplaces, in denen der Nutzer sagt: „Ich brauche Nasenspray ohne Konservierungsmittel“ – und der Agent vergleicht automatisch.
Das Modell von OpenAI zeigt zudem, wie Monetarisierung künftig aussehen könnte: kleine Gebühren pro Transaktion oder Priorisierung in Empfehlungen – ohne klassische Werbung. Für den deutschen Markt wäre ein solches Modell nur tragfähig, wenn Transparenz und Nicht-Beeinflussung medizinischer Entscheidungen gesetzlich sichergestellt sind.
Vertrauen als Währung
Deutschland ist ein Markt mit hohem Datenschutzbewusstsein – besonders im Gesundheitsbereich. Vertrauen wird daher der zentrale Erfolgsfaktor. Verbraucher werden KI-Agenten erst dann Aufgaben überlassen, wenn sie nachvollziehen können, wie Entscheidungen entstehen, wer Zugriff auf ihre Daten hat und welche Grenzen gelten.
Agentic Commerce im Pharma-Bereich wird also weniger durch Technologie, sondern durch Vertrauensarchitektur vorangetrieben. Anbieter, die Transparenz, Sicherheit und medizinische Validität vereinen, werden langfristig die Akzeptanz gewinnen.
Fazit: Schrittweise Evolution statt radikaler Umbruch
Agentic Commerce hat das Potenzial, den Pharma-E-Commerce in Deutschland nachhaltig zu verändern – aber nicht abrupt. Kurzfristig werden KI-Agenten einfache OTC-Bestellungen oder Preisvergleiche übernehmen. Mittelfristig könnten Plattformen Rezepte, Verfügbarkeiten und Lieferoptionen intelligent verknüpfen.
Wer frühzeitig agentenfähig wird – also Daten öffnet, Schnittstellen schafft und Transparenz gewährleistet – wird eine zentrale Rolle im entstehenden Ökosystem spielen.
Ob diese Rolle bei Shop Apotheke, DocMorris, Amazon oder neuen spezialisierten Akteuren liegt, entscheidet sich weniger an Technologie als an der Balance zwischen Automatisierung, Regulierung und Vertrauen.